Unser Dorf, unsere Welt
Sie gingen in den gleichen Kindergarten, in die gleiche Schule. Für ihre Ausbildung zogen die vier Freunde fort. Nun kehrten alle zurück. Sie können nicht ohne das Dorf. Warum?
Theresa, Lena, Petra und Sebastian sind Freunde. Sie sind in Werpeloh geboren, besuchten denselben Kindergarten und fuhren mit demselben Bus zur Schule. Mittlerweile sind sie Ende Zwanzig. Für ihre Ausbildung zogen sie weg, doch sie kamen alle wieder zurück. Heute haben sie Partner und bauen alle in derselben Straße. Hier wollen sie alt werden.
Wir sitzen in Petras Garten. Auf dem Grill liegen die letzten Würstchen, es gibt Bowle aus einer Tupperschüssel.
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Wie habt ihr vier euch kennengelernt?
Theresa: Wir haben uns nicht kennengelernt. Wir kennen uns seit wir denken können. Wir kennen uns schon immer.
Petra: Wir waren zusammen im Kindergarten. Es gab zwei Gruppen, die Igel und die Spatzen. Mein Raum war vorne, die anderen drei waren hinten.
Sebastian: Die Coolen waren hinten. Wie im Bus.
Lena: Zwischen Sebastians und meinem Elternhaus lag nur eine Weide, das waren vielleicht 20 Meter. Wir haben immer gesagt: Genau da bauen wir später zusammen ein Haus und jeder bekommt eine Hälfte.
Sebastian: Und einen Pool.
Theresa: Sebastian! Ich war doch diejenige, mit der du bauen wolltest! Einen Bauernhof!
Sebastian: Im Kindergarten war man doch täglich in jemand anderen verliebt, oder?
Nach der Grundschule kamt ihr in verschiedene Klassen. Habt ihr dort neue Freunde kennengelernt?
Theresa: Ja, aber das war nicht das Gleiche. Das ist kein Freundeskreis, mit dem man sich jetzt noch trifft.
Petra: Wir haben uns damals jeden Freitag getroffen. Am liebsten haben wir Miniplaybackshow gespielt. Dann waren wir die Spice Girls.
Theresa: Ich war Emma.
Petra: Ich war Sporty Spice.
Lena: Ich war lieber Blümchen.
Sebastian: Ich hab mich da rausgehalten.
Was unterscheidet eure Dorffreundschaft von anderen Freundschaften?
Theresa: Werpeloh hält zusammen. Schon als wir Kinder waren, hieß es immer: Werpeloh gegen den Rest der Welt.
Petra: Werpeloh gegen die Nachbardörfer. Nur leider haben die immer gewonnen.
Lena: Alle aus einem Jahrgang gehen zusammen zur Schule, fahren zusammen ins Zeltlager, man wird Messdiener und Landjugendmitglied. Das passiert automatisch. Als Erwachsener geht man dann in den Sportverein oder ins Blasorchester. Ich spiele immer noch Querflöte dort.
Theresa: Du kannst dich da natürlich aus allem raushalten. Aber dann passiert auch nichts, dann fehlt dir das Gefühl, das wir teilen. Die Dorfgemeinschaft. Jemand, der hier nur sein Haus stehen hat, jemand, der hier nur schläft – der kennt das nicht.
Habt ihr euch mal zerstritten?
Lena: Früher haben wir uns alle vier Wochen getroffen und uns gesagt, was wir aneinander scheiße finden.
Theresa: Aber wenn du deine Freundschaft durch die Pubertät gebracht hast, dann bleibt sie.
Für eure Ausbildung habt ihr Werpeloh verlassen. Was habt ihr vermisst?
Theresa: Nichts. Ich habe in Oldenburg studiert, aber ich war nie richtig weg. Spätestens Freitagabends um halb neun saß ich im Jugendheim.
Sebastian: Andere gehen nach dem Abi in die Stadt, ich bin für fünf Jahre in den Nachbarort gezogen.
Petra: Ich habe in Leer, einer kleinen Gemeinde in Ostfriesland, eine Ausbildung zur Ergotherapeutin gemacht. Das war gar nicht meins. Da klappen sie abends die Bordsteine hoch.
Aber hier doch auch!
Lena: Nein. Wir hatten doch uns. Wir haben uns jeden Abend getroffen. Zur Musikprobe, zum Chor, zum Fußball. Selbst wenn es nur zum Fernsehen gucken war.
Die Altersverteilungen von Werpeloh und Deutschland: Im Dorf gibt es auffallend viele Menschen, die jünger sind als 30 Jahre.
Jetzt wohnt ihr alle in einer Straße. Petra kann durchs Küchenfenster in Lenas Wohnzimmer schauen. Ist euch das nicht zu eng?
Theresa: Man überlegt natürlich schon. Die ganze Clique auf einem Haufen – ist das wirklich gut? Aber ich glaube, bei uns wird das kein Problem. Es wohnen ja auch noch Leute dazwischen. So wie Gertrud, die heute für uns die Kräuterbutter gemacht hat.
Lena: Bisher fühlt es sich nicht zu eng an. Ein paar Sögeler wohnen hier ja auch, Leute aus dem Nachbardorf, nicht nur Bekannte.
Petra: Für mich ist das einfach nur praktisch, das Babyfon reicht bis auf Lenas Terrasse. Wir sind hier füreinander da. Bei einem richtigen Werpeloher kannst du nachts klingeln, der macht dir die Tür auf und lässt dich bei ihm übernachten. Ich könnte niemals nicht die Tür aufmachen.
Soll euer Leben jetzt so bleiben – für immer?
Lena: Ja. Wir haben unser Haus ebenerdig gebaut, damit wir auch im Alter noch darin wohnen können.
Petra: Wer hier ein Haus baut, der bleibt. In Werpeloh ist es immer für immer.
Gruselt euch das nicht?
Theresa: Was? Hier zu sterben? Auf gar keinen Fall. Ich habe bisher mein ganzes Leben in Werpeloh verbracht. Ich will ja nicht irgendwo anders liegen. Natürlich gibt es Nachteile am Leben in so einem kleinen Ort. Die Leute reden halt, aber das gehört dazu.
Lena: Trinkst du keinen Alkohol, bist du automatisch schwanger.
Macht ihr euch nie Sorgen, dass eure Welt zusammenbrechen könnte?
Theresa: Die Frage verstehe ich nicht. Warum sollte ich mir darüber jetzt Gedanken machen? Da könnte ich ja keinen Schritt mehr vor die Tür machen.
Würde eure Freundschaft auch in der Stadt funktionieren?
Sebastian: Freundschaften auf dem Dorf sind viel intensiver.
Theresa: Als ich in Oldenburg studiert habe, da konnte ich nicht nach drei Wochen Mädels zur Begrüßung in den Arm nehmen und sie als beste Freundin bezeichnen. Das war doch überhaupt nicht mit dem zu vergleichen, was ich hier hatte.
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