Der Kampf um die Krone

Jedes Jahr im Juni kämpfen die Männer von Werpeloh um das wichtigste Amt des Dorfes. Jeder möchte einmal Schützenkönig sein. Hinter verschlossenen Türen treten sie gegeneinander an. Es gewinnt nicht immer der beste Schütze.

Ein letztes Mal tritt der alte König von Werpeloh vor sein Volk. Auf seinen Schultern ruht die Amtskette, mehr als 15 Kilo Silber, einen Orden für jeden seiner Vorgänger. Schon morgen wird er die Insignie seinem Nachfolger übergeben, doch an diesem Sonntagnachmittag gebührt der Ruhm noch ihm, Martin Schmitz, dem Ersten. Kompanien aus 13 Nachbardörfern und das Werpeloher Blasorchester sind auf dem Sportplatz angetreten, knapp 1000 Männer in ihren Uniformen.

Im Torraum hat der Schützenverein ein Podest für seinen König errichtet, auf dem Wellblechdach weht eine Deutschlandflagge vor wolkenlosem Himmel. „Mein Kindheitstraum war es, einmal König zu sein“, ruft der König ins Volk. Er wendet sich seiner Frau zu. “Dir, liebe Annette, meine Königin, muss ich besonders danken.” Sie greift seine Hand. Dann rinnt ihr eine Träne über das Gesicht.

Text und Optik

Marius Buhl
Lisa McMinn
Frederik Seeler

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„Wenn du hier lebst, ist der Titel ein Muss“

Die Sache mit der Monarchie ist eine emotionale in Werpeloh. Dehnt man das Dorf auf nationale Größe, entspricht der Bürgermeister dem Kanzler, der Schützenkönig aber dem Bundespräsidenten. Aus befreundeten Paaren wählt er sein Throngefolge, gemeinsam repräsentieren sie das Dorf auf den Schützenfesten der Nachbardörfer.

Einmal im Jahr veranstalten sie den großen Schützenball, aber auch in jeder anderen Woche trinken sie Schnaps mit den Dörflern, feiern und grüßen. Mehrere Tausend Euro kann das Amt kosten. Zumal ein guter Regent seinem Schützenheim auch etwas spendet. Einen neuen Grill zum Beispiel. Oder eine Bar. Doch das ist es den Schützen wert: „Wenn du hier lebst, ist der Titel ein Muss“, sagt Martin Schmitz, der Erste.

Es ist Sonntagabend, eine Coverband spielt Helene Fischers “Atemlos” im Festzelt vor dem Schützenheim. Dazwischen haben die Schausteller ihre Buden aufgeklappt. Jungen zielen mit hochgekrempelten Ärmeln und Luftgewehren auf Plastikrosen. Mädchen kaufen Zuckerwatte am Süßigkeitenstand. Der alte König sitzt im Zelt und schaut traurig drein. Seine Zeit ist fast vorbei.

Am Nachmittag, nachdem er zum Volk gesprochen hatte, begann bereits der Kampf um seine Nachfolge. Rund 30 Männer traten zur Vorrunde an und schossen auf eine Holzscheibe. 16 Männer trafen ins Schwarze. Morgen früh, am Montag, werden sie sich wiedersehen, zum Finale. Was müssen die Thronanwärter können, um König zu werden?

Der Vorstandsvorsitzende des Schützenvereins, Oberst genannt, zählt drei Bedingungen auf: “Über 18 Jahre alt muss unser künftiger König sein, trinkfest – und öfter ins Schwarze treffen als die anderen. Mehr braucht es nicht.”

Wirklich?

Im Festzelt erzählen die Dorfbewohner eine andere Geschichte. Einer, der viele Schützenfeste aus nächster Nähe begleitet hat, aber seinen Namen nicht nennen möchte, nimmt einen Schluck Bier, dann sagt er: “Es ist vorgekommen, dass Männer König wurden, die kaum schießen konnten.” Seine Vermutung: Der Vorstand entscheide schon vor dem Schießen, wer König werde. Er nimmt noch einen Schluck, dann flüstert er: “Besser als eine ruhige Hand ist ein Stein im Brett beim Oberst”.

“Quatsch”, sagt der Oberst, wenn man ihn danach fragt. Er lächelt dabei.

Nur angenommen, der Vorstand suchte tatsächlich den König schon vor dem Schießen aus; es hätte einige Vorteile. Der Vorstand könnte darauf achten, dass der König seine Zeche auch zahlen kann. Und dass ein König nicht zweimal hintereinander aus demselben Ortsteil oder derselben Familie kommt. So wäre fast jeder mal dran, fühlte sich geachtet. Die Krönung als integrative Maßnahme? Der Informant im Festzelt nickt.

Auch mancher Dorfbewohner scheint schon zu wissen, wer in diesem Jahr König werden könnte. Im Festzelt tuscheln sie, nennen Namen. Zwei Favoriten haben sie unter den 16 Finalisten ausgemacht. “Bernd Schmits”, raunt die Wirtin der Dorfkneipe, “der ist mal dran. Ein Ur-Werpeloher.” Schmits, den man hinten mit -s schreibe, sei nicht verwandt mit dem alten König Schmitz, sagt sie, das erhöhe seine Chancen. Im letzten Jahr sei er Vize geworden, im Jahr davor verzichtete er: Seine Frau hatte sich das Handgelenk gebrochen, und eine invalide Königin, das gehe ja nicht, sagt die Wirtin.

Torsten Eilers kommt aus einem Nachbarort. Das Zeug zum König hat er dennoch.

Ein Mädchen im Festzelt setzt auf einen anderen Schützen. “Torsten Eilers”, sagt sie, “der hat es verdient.” Ja, er sei ein Zugezogener, ein Butendabbler, wie man hier sagt. Doch der junge Dorfpolizist sei doch “inzwischen mehr Werpeloh als alle hier”. Er spielt die Tuba im Blasorchester und hat sogar den Namen seiner Frau angenommen: Eilers, einer der häufigsten Namen im Ort.

In der Nacht vor dem Finale sitzt Torsten Eilers auf einer Bierbank im Zelt, seine Hand klopft im Takt auf den Tisch, er lächelt beseelt. Er kramt sein Handy hervor und zeigt Bilder seiner Tochter herum. „Süß, oder?“ Er schäkert mit den Alten, tanzt mit den Jungen. Gemocht werden, das weiß auch Eilers, kann nicht schaden, wenn man König werden will. Bis halb vier morgens hält er durch, dann geht er ins Bett. Zwei Stunden später, um halb sechs, steht er wieder auf. Er streift sich die rote Weste des Musikvereins über, schultert seine Tuba und marschiert mit den anderen Musikern durchs Dorf, die Gemeinde wecken. Pünktlich um 10.30 Uhr steht er vor dem Schützenhaus. Das Finale beginnt.

Der Kampf um den Königsthron erinnert an das päpstliche Konklave. Einer nach dem anderen verschwinden die 16 Anwärter im Schützenhaus, die übrigen Dörfler müssen draußen bleiben. Sie wippen in mitgebrachten Campingstühlen, bestellen erste Biere – und warten. Drinnen verriegelt der Oberst das Schloss der Tür und lässt die Jalousien herunter. “Und jetzt alle Handys zu mir”, sagt er, “soll ja nichts nach draußen gelangen.” Eilers, Schmits und die anderen Finalisten setzen sich an einen Tisch aus Birkenfunier, darauf ungezählte Biere, sechs Flaschen Korn, drei Aschenbecher und eine Buddel Chantré. Um sie herum stellen sich die Würdenträger des Schützenvereins auf: der Kommandeur, der Major, der Oberst, der Kompanieführer.

„Ruhige Hand, guten Schuss – möge der Beste gewinnen!“, ruft der alte König in die Runde und hebt seine Flasche. Torsten Eilers stimmt aus heiserem Hals zum Gegenruf. “Auf unseren König! Er lebe hoch! Hoch! Hoch!”

Bernd Schmits, der zweite Favorit, sitzt in der Mitte der Tafel. Am Körper trägt er ein braunes Jackett, im Gesicht einen Schnauzer. Den Staplerfahrer und seine Familie kennt in Werpeloh jeder, Schmits ist eines von elf Kindern. Auf seinem Hof hängt noch die Zielscheibe auf die sein Vater damals schoss, als er vor 30 Jahren König wurde. Seit diesem Moment träumt Schmits von seiner eigenen. Fragt man ihn, was er für ein Typ sei, schiebt er den Ärmel seines Jacketts hoch und zeigt auf sein Hemd. “Kleinkariert.” Die Bierschaumflocken in seinem Schnauzbart zittern, als er lacht. Wenn der Major ihm Korn nachschenken will, hält Schmits seine rechte Hand flach über sein Glas. Er trinkt Bier, die Schnapsgläser bitte nur halbvoll. Er will sich lieber schonen, man kann ja nie wissen.

Bernd Schmits nimmt bereits zum achten Mal am Finale teil.

Der erste Schuss gehört dem alten König, Martin Schmitz. Er verschwindet hinter einer Schwingtür und tritt in die Schießkammer. Durch eine Glasscheibe beobachten ihn seine Konkurrenten, sie prosten ihm zu, er nimmt sich das Gewehr und dreht sich in Richtung eines tunnelartigen Gangs; dem Schießkanal. An dessen Ende erkennt Schmitz einen weißen Fleck: die Königsscheibe. Schmitz drückt ein Auge an den Sucher, kneift das andere zu, dann knallt es und fünfzig Meter weiter hinten schlägt die Patrone eine Kerbe ins Holz.

“Wenn es um die Krone geht”, sagt der Oberst, “verlassen wir uns nicht auf die Technik.” Die elektronische Schießanzeige, die sie im Training verwenden, haben sie ausgeschaltet, stattdessen hockt am Ende des Tunnels der Kompanieführer in einem Verschlag und prüft die Holzscheibe nach jedem Schuss. Dann überklebt er die Kerbe, greift zu einem grünen Telefon mit Wählscheibe und nennt dem Kommandeur im Schießstand die Zahl des getroffenen Rings. Der Mann neben der Scheibe ist der einzige, der weiß, welcher Schütze die schwarze 12 getroffen hat; alle anderen verlassen sich auf sein Wort.

Der Kommandeur tritt aus dem Schießstand an den Tisch. Die anderen Kandidaten verstummen. „Der alte König war nervös!”, ruft er und grinst, “Schmitz, 11!“ Ausgeschieden in der ersten Runde, der alte König lacht besonnen.

Eineinhalb Stunden lang schießen die Männer. Vor jedem Schuss schenkt der Kommandeur einen Schnaps ein, nach dem Schuss einen weiteren. “Dehnen” nennt er das. Sie singen, fluchen, rauchen, gröhlen, der Kommandeur ruft “8!” oder “9!”, und so scheidet einer nach dem anderen aus. Eilers und Schmits aber schießen zweimal in Folge eine 12. Sie und drei weitere Kandidaten schaffen es in die dritte Runde.

Für den zugegezogenen Torsten Eilers wäre die Krone eine besondere Ehre. Am Abend vorher, im Bierzelt, äußerte er eine Hoffnung: “Dass ich jetzt zum vierten Mal im Finale dabei bin, könnte bedeuten, dass Werpeloh mich aufgenommen hat in die Dorfgemeinschaft!” Der Königstitel wäre sein Beweis.

Für Bernd Schmits ist der Titel eine Pflicht. „An meinem Haus soll meine Scheibe hängen“, sagt er. Schmits möchte bekommen, was ihm, wie er sagt, “seit Jahren zustehe”.

Es ist kurz vor zwölf am Mittag, als die letzte Runde beginnt. Fünf Schützen sind noch übrig. Eilers ist als Erster dran. Die meisten Männer stehen jetzt, ihre Gesichter strahlen rot, ihre Stimmen klingen rau. Auch die von Schmits. Als Eilers sich durch die Männer zum Schießstand drückt, reißt Schmits ihn kurz an sich und klatscht ihm die flache Hand auf den Rücken: “Auf einen fairen Kampf!” Eilers grinst, sein Blick verschwimmt. Einer der Jungen beugt sich zu ihm und flüstert: “Wenn du gewinnen willst, musst du aufs Telefon schießen.”

Eilers tritt in die Schießkammer. Er legt das Gewehr an, fixiert, lässt es wieder auf die Holzablage sinken und blickt ins Dunkel, zieht die kühle Luft des Schachts in seine Lungen, legt an und drückt den Abzug. Die Kugel donnert durch den Tunnel. Am anderen Ende beugt sich der Kpmpanieführer über die Scheibe, dann greift er nach dem Telefon. Im Schießstand hält der Kommandeur den Hörer an sein Ohr, er nickt, schiebt Eilers aus dem Schießstand zurück zu den Männern an den Tisch und schreit: “10!”

Dann ist Schmits dran.

Vorne zieht der Trecker, hinten winkt der König: Martin Schmitz und seine Frau danken ab.

Das Dorf marschiert. Allen voran Fähnrich Anton Lammers.

Früher schulterten die Schützen Gewehre. Heute marschieren sie mit Blumengestecken auf dem Fußballplatz auf.

Wie viele Ringe die Schützen geschossen haben, wissen nur zwei Vorstandsmitglieder, und dieses Telefon.

Die Königsscheibe. Nach jedem Schuss wird die frische Kerbe abgeklebt.

Um kurz vor 13 Uhr öffnet sich die Tür des Vereinhauses. Etwa 300 Werpeloher springen auf, drängen zum Eingang, die Kapelle spielt auf, ein Tusch. Dann treten die Schützen vor die Tür. Zu sechst tragen sie den neuen König auf ihren Schultern: Bernd Schmits reckt die Faust in den Himmel, streift mit der Zunge über Lippen und Bart, er strahlt. Die ganze Menge will ihm jetzt gratulieren, aber die Männer tragen ihn ins Festzelt, zu seinem Thron. Bernd Schmits ist am Ziel, er ist der 151. König von Werpeloh. Torsten Eilers geht neben ihm. Auch er stützt den neuen König, er lacht laut. Später greift er zur Tuba und spielt seinem Gegner ein Ständchen. Wenn er traurig ist, kann Torsten Eilers das gut verbergen. Besser so. Der Kampf um die 152. Krone hat gerade begonnen.

Text und Optik

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