Vernissage in Werpeloh
Mit dem Blick des urbanen Feuilletonisten haben wir rezensiert, was wir an Kunst im öffentlichen Raum entdeckten: von Seelenbrettern bis zu einer kaputten Laterne.
Die Installation irritiert den Betrachter zuallererst durch ihren Ausstellungskontext: eine Neubausiedlung mit getrimmten Vorgärten, deren Bewohner sich nur als Schatten zu erkennen geben, die fremde Autokennzeichen notieren und hinterlassenes Kaugummipapier vom Bürgersteig „aufheben“ (Hegel).
Diesen Erfahrungsraum kategorialer Übersichtlichkeit jenseits urbaner Komplexität ergänzt die Installation durch ihre eingeschriebene Mehrdeutigkeit, bei deren Interpretation sich der Betrachter cum grano salis, einen Gedanken Leslie Nielsens klaubend, langsam wie ein Blinder beim Gruppensex an die Sache herantasten muss.
Indem sich die Installation wie die „Badewanne“ von Beuys mimetisch an ihre Umgebung anschmiegt, ragt die Laterne gerade aus dieser Umgebung heraus: ihr Gehäuse ist zersplittert und ihre Glühbirne verlustig gegangen, ihre Funktion als Laterne scheint durch ein nonverbales Dekonstruktionsdispositiv infrage gestellt – eine ikonographische Eloge auf Vandalismus als existenzialistische Regelüberschreitung, die es so in Werpeloh nicht gibt, wo in Abwesenheit metropolitaner Fluchtpunkte konsumptiver Distinktion (Ramones-Shirts bei H&M) die hegemoniale Identität zwischen Erntedankfeier und Schützenfest ihre Volatilität nicht offenbaren muss.
Die Installation dechiffriert diese diskursiv hergestellte Idylle regredierten Bewusstseins ästhetisch-reflexiv als mangelhaft und kommuniziert emblematisch, dass Freiheit mehr ist als man darf.
Die Installation ist noch für unbestimmte Zeit im öffentlichen Raum Werpelohs ausgestellt, neben anderen Werken des unbekannten Künstlers wie der Kunststoffskulptur „Umgefallene Mülltonne“ oder der Kreidemuralismus „Hakenkreuz an Wand von Bushaltestelle“.
In Werpelohs Vorgärten blüht etwas, das eigentlich schon ausgestorben sein sollte. Der Aphorismus.
Nun ist es mit den Sinnsprüchen wie mit Horoskopen – sie werden belächelt und sollten daher im 21. Jahrhundert ausgedient haben. Und doch sind sie so genial allgemein formuliert, dass selbst der aufgeklärte Mensch darin Sinn und Bestätigung für das Ich findet.
„Lebe deinen Traum“ oder „Das Leben kann man nur rückwärts verstehen, leben muss man es vorwärts.“ In Werpeloh finden sich die Sprüche gepinselt auf rustikale Bretter. Genannt: Seelenbretter. Gemalt in fauvistischen Farben von Firmlingen zusammen mit ihren Eltern als gemeinsames Projekt. Etwa 20 davon stehen im Dorf, eingerammt in den paradies-grünen Vorgartenrasen.
Das klingt nach Biedermeier, ist aber durchaus postmodern.
Werden unsere Timelines nicht sowieso von Sinnsprüchen überschwemmt, hinterlegt mit Sonnenuntergängen? Nur eben, dass der Buzzfeed-sozialisierte Jungintellektuelle sich dabei hinter Euphemismen wie Word Porn oder Visual Statements versteckt. Es ist nur konsequent, den Aphorismus aus dem Internet zurück in den Vorgarten zu holen.
Denn bei Facebook verenden die Sinnsprüche endgültig zu massentauglichen Plattitüden, die dem User sechs Emojis zur Reflektion übrig lassen. Sinn stiftet das nur den Betreiber-Seiten, die mit den Klicks und Shares ihr Geld verdienen.
Wer aber tagelang ein Seelenbrett bemalt, macht sich unweigerlich Gedanken darüber, welchen Traum es tatsächlich noch zu leben lohnt. Der bemalt das verwitterte Holz und denkt an die Sonne Madagaskars, spürt Sand zwischen den Zehen und schmeckt Zimt auf der Zunge. Und obwohl er ja immer noch auf dem Rasen in Werpeloh steht, begreift er, dass er jederzeit gehen könnte. Dass alles anders sein könnte, aber eben nicht muss.
Die Sonne brannte auf meinen Nacken, ich saugte an einem Eistee, und es hätte ein schöner Tag sein können, aber es war der vierte Tag in Werpeloh. Seit drei Stunden lief ich durch das Dorf. Durch Straßen, in denen es keinen Gehweg gibt, weil die rasierten Vorgärten bis zur Fahrbahn reichen, vorbei an Zierbrunnen und kugelförmigen Buchsbäumen, an müden Deutschlandfahnen und Gartenzaunkläffern und Fußmatten mit Carpe-Diem-Sprüchen. Werpeloh war das schönste Dorf, in dem ich gewesen war, und, so schien es mir, das mit Abstand langweiligste.
Ich ging durch das Neubaugebiet, wo die Straßen „Holunderweg“ und „Ginsterweg“ heißen und wo in die großzügig bemessenen Häuser bald junge Paare einziehen würden, Werpeloher Jugendlieben. Ich lief schneller. Von den Gerüsten drang das Hämmern der Bauarbeiter, und obwohl viele Häuser noch leer standen, fühlte ich mich beobachtet.
Ich weiß nicht mehr, wie lang ich so vor mich hingegangen war, jedenfalls war die Straße plötzlich zu Ende: eine Wendeplatte, umzingelt von rotbraunen Backsteinhäusern.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ich wusste nur, dass ich den Weg nicht zurückgehen wollte.
Zwischen zwei Häusern war eine Lücke. Dahinter traf ich auf einen Pfad, nach ein paar Metern auf einen Durchgang in einer struppigen Hecke, und dann, plötzlich, sah ich ihn: einen Spielplatz, zugewuchert und verfallen.
Ich wusste sofort, dass der Ort gut war: Zwischen den Spielgeräten wuchs das Gras bis zum Knie, in den Löchern der Torwand hatten Spinnenfamilien ihre Netze gebaut, und die Wippe sah aus wie eine wilhelminische Kanone, nach dem Ersten Weltkrieg.
Ich schaukelte ein bisschen, was schwierig war, weil kaum mehr Kuhle unter der Schaukel war. Die Angeln quietschten, und vom Balken, an dem die Schaukel hing, rieselten Moosbröckchen in meinen Nacken. Höher als einen halben Meter brachte ich meine Füße nicht über den Boden.
Vögel zwitscherten. Das Brummen der Rasenmäher aus den Vorgärten drang dumpf herüber. Von den umstehenden Häusern waren über die verwilderte Hecke des Spielplatzes nur die Dächer zu sehen. Ruhe kam über mich, auf der Schaukel schaukelnd.
Von da an ging ich fast jeden Tag zum Spielplatz. Mit der Schaukel kam ich jedes Mal etwas höher. Kinder sah ich nie. Einmal, als ich gerade wieder aus dem Durchgang in der Spielplatz-Hecke auftauchte, blickte mich ein älterer Mann an, der mit seinem Enkel im Garten Fußball spielte.
„Moin“, grüßte ich.
„Moin“, sagte er.
Er schaute mich an, mitleidig, glaube ich. Dann deutete er auf die Hecke hinter mir, den Spielplatz.
„Die muss man auch mal wieder schneiden“, sagte er.
Text und Optik
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