Editorial
Wir sind losgefahren, um die Provinz zu erleben. 16 Reporter der Henri-Nannen-Schule, zwei Wochen im Hinterland, zwei Wochen in Werpeloh. Die Geschichte eines journalistischen Experiments.
In der dritten Nacht klaute jemand unsere Fahrräder. Wir hatten sie gemietet, um jeden Morgen von einem Nachbarort aus nach Werpeloh zu radeln. In Werpeloh selber hatten wir keine Unterkunft gefunden, kein Wunder, wer reist schon nach Werpeloh: kleines Dorf im Emsland, 1200 Einwohner, eine Kirche, eine Kneipe, ansonsten viele Schweine, Kornfelder, Windräder.
Die Werpeloher betonten sogleich, dass die Räder ja nicht in ihrem Dorf gestohlen worden waren, sondern vor unserer Herberge im Nachbarort. In Werpeloh sei so etwas undenkbar. Hier gebe es keine Diebe. Die Botschaft war klar: In ihrem Flecken, wo jeder jeden kennt, sei die Welt noch in Ordnung.
Ist sie das wirklich? Und falls ja: Worauf beruht diese heile Welt? Macht es Spaß, in ihr zu leben?
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Es gibt in Deutschland knapp 6000 Dörfer mit weniger als 2000 Einwohnern. Das sind 6000 ländliche Wohngemeinschaften, die überwiegend brav und geräuschlos vor sich hinleben und selten in die Medien gelangen. Was die Dörfler bewegt, was sie fürchten und begeistert, davon wissen Städter meist nur wenig. Wer so sein Gefühl für die Hälfte des Landes verliert, der wird kalt überrascht von Ereignissen wie dem Brexit und der Trump-Wahl. Gerade Journalisten hören es derzeit häufiger: Schaut mehr aufs Land, berichtet nicht nur über das, was in euren Großstädten wichtig erscheint. Besucht die grünen Flecken auf der Landkarte.
Die Bewohner von Werpeloh waren überrascht und wohl auch erschrocken, als gleich 16 junge Journalisten anreisten. Unser Ziel war eine Nahaufnahme der deutschen Provinz, von einem ganz normalen Dorf, nicht verarmt und abgehängt, aber auch kein Idyll im Speckgürtel einer Metropole. Viele Orte kamen dafür in Frage, wir entschieden uns nach einem Hinweis Berliner Sozialforscher für Werpeloh: provinzieller Durchschnitt, 500 Kilometer entfernt von Berlin, 240 Kilometer von Hannover, eine halbe Fahrtstunde von der nächsten Autobahn.
Zwei Wochen lang haben wir uns auf das Dorf eingelassen, halfen Schweinezüchtern beim Ausmisten, begleiteten die Freiwillige Feuerwehr, feierten im Schützenverein. Am Vatertag pilgerten wir mit Dorfjugend und Bollerwagen durch die Felder, am Sonntag saßen wir in der Kirche.
Über manches von dem, was wir entdeckten, gerieten wir in Streit. Wenn etwa viele Jugendliche nach Schulende in Werpeloh bleiben wollen: Liegt es daran, weil sie bequem und risikoscheu sind – oder weil sie einfach wissen, was sie an ihrer Heimat haben? Wenn viele Werpeloher die rund 100 Fabrikarbeiter aus Osteuropa in ihrem Dorf komplett ignorieren: Ist das fremdenfeindlich oder nicht?
Die Menschen waren nett zu uns. Sie luden uns zu Erdbeerkuchen und zum Grillen ein, sie grüßten uns lächelnd beim Bäcker und auf der Straße. Aber sie blieben auch skeptisch. Was fragen die bloß alles, diese Journalisten aus der Großstadt? Und was wird bei alldem herauskommen?
Die Werpeloher, geprägt von Heimatstolz und Gemeinsinn, blicken auf ihr Dorf so wie die CDU in ihrer aktuellen Kampagne auf Deutschland schaut: ein Ort, an dem wir gut und gern leben. Insofern ist Werpeloh, gerade im Wahljahr 2017, ein sehr deutsches Dorf.
Nachtrag:
Außerdem finden Sie uns auch in DIE ZEIT. Das Ressort „Z“ hat mit unseren Texten eine ganze Ausgabe zum Thema Dorfleben produziert, in der ZEIT-Ausgabe vom 31. August 2017 und Zeit Online übernahm Beiträge von uns, für das Ressort #D17, einer Serie von Geschichten aus der Provinz: http://www.zeit.de/thema/d17
Text und Fotos
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