Mit ihm in die neue Zeit
Auch im tief katholischen Emsland muss sich die Kirche verändern. Wo der Priester-Nachwuchs fehlt, werden Seelsorger zu Managern. Keine einfache Mission für Pfarrer Horstmann.
Wenn Bernhard Horstmann mit seinem Audi durch das Dorf Werpeloh rollt, am Revers seines schwarzen Sakkos ein kleines Kreuz, dann kann er viele Hinterlassenschaften seines Vorgängers sehen: die Franziskus-Statue vor der Kirche, das indonesische Batak-Haus-Museum, das Kriegerdenkmal. All das hat Horstmanns Vorgänger geschaffen: Pater Matthäus, Kapuzinerbruder, 30 Jahre katholischer Dorfpfarrer von Werpeloh.
30 Jahre, in denen aus Matthäus Bergmann “unser Pater” wurde. Einer, über den die Werpeloher erzählen, dass er ihr Denken verändert habe. Das sagen sogar die, die ihn nur als Kinder erlebt haben. Ein Dorfheiliger.
Aber Horstmann, raspelkurze Haare, eckige Brille, kein Blatt vor dem Mund, sieht die Spuren seines Vorgängers Matthäus selten. Manchmal ist er tagelang nicht in Werpeloh. Er hat noch sechs weitere Gemeinden zu betreuen, alles in allem fünf Friedhöfe, sechs Kindergärten, 9500 Seelen, jährlich 110 Beerdigungen und noch einmal so viele Taufen. Er hat immer zu tun und selten Zeit.
Horstmann ist kein Dorfheiliger und er will auch keiner werden. Er ist die Antwort der katholischen Kirche auf die neue Zeit. Wo Priester fehlen und sich Kirchenbänke leeren, wo Einnahmen wegbrechen und Gemeinden zusammengelegt werden, da ist die Zeit der Manager gekommen. Die Zeit von Menschen wie Bernhard Horstmann.
Text und Optik
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Es gibt nur ein Problem: Die Werpeloher hadern mit der neuen Zeit. Und sie hadern mit Bernhard Horstmann. Lieber erinnern sie sich an Pater Matthäus, an eine Zeit, als der Pfarrer mal eben in die Küche platzte und das Abendbrot segnete. Kirche und Dorf, das war einmal eine untrennbare Einheit – und heute?
Horstmann gibt Gas. Er hat einen Termin in einem Kindergarten im Nachbardorf Sögel, vier Kilometer von Werpeloh entfernt. 30 Minuten hat er für das Gespräch eingeplant. “In der Woche habe ich 40 bis 45 Stunden mit Kundenkontakt”, sagt er. Dazu kommt Arbeit zu Hause, etwa 50 Stunden sammeln sich über die Woche an.
Sein Vorgänger Pater Matthäus musste nicht streng planen, als er 1973 nach Werpeloh kam. Er konnte flanieren, hämmern, sägen, plaudern. Er war in vielem kein typischer Geistlicher. Geburtstagsbesuche erledigte er gern im Blaumann; er glaubte an Außerirdische und zog einmal für eine Woche ins Moor, um sie willkommen zu heißen, wie ein Freund freimütig erzählt; er sandte Bauern aus, um magische Findlinge zu suchen, die er zu einem Steinkreis anordnete; er ließ schon früh Messdienerinnen zu und stand dem Zölibat kritisch gegenüber. Obwohl es also genug gab, um sich an ihm zu reiben, nahm er das Dorf schnell für sich ein. Charismatisch nennen ihn fast alle. Einen Menschenfischer manche.
Einige Geschichten über Matthäus klingen fast biblisch. Einmal soll eine Frau zu ihm gekommen sein, schwanger mit Zwillingen, die Ärzte sollen aus medizinischen Gründen zur Abtreibung geraten haben. Nicht nötig, ich sehe die Kinder in deiner Küche spielen, habe Matthäus gesagt. Und so sei es gekommen. Als er selbst schwer krank wurde, pflegten ihn die Männer des Dorfes über mehrere Monate hinweg im Schichtdienst, trugen den greisen Mann ins Bett. Zu seinem Tod gravierten die Werpeloher Matthäus’ Autokennzeichen in eine Gedenktafel: EL – MT 28. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.
Fünf Jahre nach Matthäus’ Tod kam Bernhard Horstmann in die Pfarrgemeinschaft Sögel. Dass er die Werpeloher aufforderte, sich von ihrem alten Pater abzunabeln, tragen ihm einige immer noch nach. “Mein Fall ist er nicht”, ist auch deshalb eine häufige Werpeloher Antwort auf die Frage nach Horstmann.
In Sögel steigt Horstmann aus dem Wagen und eilt in den Kindergarten. Mit zwei Erzieherinnen bespricht er das Programm für eine Kindermesse. Eine der Frauen sagt: “Ich habe einen Text aus der Kinderbibel fürs Evangelium rausgesucht, ich hoffe, der ist Dir nicht zu… naja, ist halt kindgerecht, weißt du?” – “Ja… ja…”, sagt Horstmann. Wenig später, noch während sie die letzten Details klären, rafft er seine Unterlagen zusammen.
“Ich bin kein Saure-Gürkchen-und-Tomaten-Pfarrer”, sagt Horstmann, obwohl er plaudern kann, wenn er will, und scherzen sowieso. “Aber ich ertrage es nicht, wenn es zu tüddelig wird.” Seine Termine pflegt er in seinem Smartphone. Er sagt “ich ticker dir das rüber”, wenn er Nachrichten verschickt. Ein Manager, so sieht er sich. Nur so kann er sieben Gemeinden, ja, was? Koordinieren? Verwalten? Im Griff halten?
Großgemeinden wie seine gibt es erst seit kurzem. Noch vor 20 Jahren hatte jedes Dorf im Umkreis einen eigenen Geistlichen. Aber überall in Deutschland werden die “pastoralen Räume” vergrößert, wie es in der Verwaltungssprache der Amtskirchen heißt. Von 2008 bis 2018 soll im Bistum Osnabrück, in dem Werpeloh liegt, die Zahl der Pfarrgemeinden von 250 auf 72 schrumpfen. Vor allem, weil es keinen Nachwuchs gibt.
Seit Jahren werden weniger und weniger Priester geweiht. Dieses Jahr fand im Bistum erstmals keine einzige Weihe statt. Überall füllen Pfarrer aus dem Ausland die Lücken. Auch in der Pfarreiengemeinschaft um Werpeloh hilft seit Jahren ein Pater aus Indien. Dazu kommen derzeit drei Diakone, zwei Pastoralreferenten und ein Pfarrer im Ruhestand. Aber sie alle kümmern sich um alle Gemeinden. Niemand ist heute nur für Werpeloh da.
So viele katholische Priester wurden in Deutschland geweiht.
Noch 1971 bekam Werpeloh eine neue Kirche. 500 Leute fasst der flache Rundbau – jeden zweiten Werpeloher. Doch der Platz wird nicht mehr gebraucht, denn die Bindung an die Kirche hat nachgelassen. Sogar hier, im Emsland, diesem Zentrum der katholischen Gegenkultur, wo sich vor 150 Jahren ein Netz des Widerstands gegen das protestantische Preußen bildete. Noch immer zählt die Landjugend in Werpeloh an die 300 Mitglieder, der katholische Sportverein 250. Aber auch hier leeren sich die Kirchenbänke.
So verstärken sich die Mängel: Weil weniger zur Messe gehen und weniger Priester geweiht werden, muss ein Pfarrer immer mehr Gemeinden versorgen. Die Gläubigen fühlen sich vernachlässigt und kommen seltener zur Messe. Mit Wehmut erinnern sie sich an einen wie Pater Matthäus, der immer da gewesen sei.
Noch als Matthäus im Rollstuhl saß, habe er darauf bestanden, so weiterzumachen wie bisher. Ich bin doch für die Menschen da, habe er gesagt. Auch daran soll er kaputt gegangen sein.
An einem heißen Vormittag steht Horstmann in Sandalen auf der Wiese neben der Kirche. Um ihn ein Kreis von Kindern und Jugendlichen, auf dem Weg ins Pfingstlager. Horstmann geht herum, in der Hand ein Gefäß mit Weihwasser, und segnet alle. Die Kleinen quieken, wenn sie das Wasser trifft. Die Älteren schauen bemüht ungerührt. Und zucken dann doch kurz. Horstmann lächelt. Es macht ihm sichtlich Freude.
Er, der auch als Notfallseelsorger arbeitet, sagt: “Die Leute finden immer, der Pastor müsse mehr Seelsorge machen, dabei bin ich ja dauernd unterwegs.” Bei 9500 Menschen könnte er sich wundlaufen und bis zur Erschöpfung aufreiben, sie würden es nicht einmal merken.
Er schuftet, aber er gibt sich nicht selbst auf dabei. Im Fitnessstudio trägt er Ohrstöpsel, damit ihn niemand anspricht. Einmal die Woche hat er einen Termin mit sich selbst und seiner Wasserpfeife. Er steht sogar im Kalender. Zwei Stunden Ruhe. Dann hört er am liebsten Peter Fox. Seine Mitarbeiter ermuntert er, auf sich zu achten und auch mal Urlaub zu nehmen.
Man könnte sagen, Horstmann ist ein Technokrat im Talar. Man könnte aber auch sagen: Horstmann ist genau das, was die katholische Kirche gerade braucht. Auf jeden Fall ist er das, was sich die Kirche gerade wünscht. „Wir arbeiten an einer Leitungskultur auch auf Basis der aktuellen Managementforschung“, sagt die Leiterin der Seelsorge im Bistum Osnabrück. Besonders wichtig dabei: eine „postheroische Führung“. Künftig könnten Priester womöglich sogar einzelne Gemeinden nur noch „begleiten“, nicht mehr „leiten“. Für Horstmann heißt das, auch Laien müssen Verantwortung übernehmen. „Kirche muss sich von Hierarchien lösen“, sagt er.
Wenn Horstmann so redet, hört sich das alles sehr schlüssig an, zeitgemäß, immer realistisch. Nur nicht spirituell. Klingt so Kirche heute?
Am Pfingstsonntag 2017 feiert Horstmann seine Silberhochzeit. So nennt er sein 25-jähriges-Weihejubiläum. Zur Feier hat er alte Weggefährten und Verwandte nach Sögel geladen, den Nachbarort von Werpeloh. Im zweistündigen Gottesdienst spielt die Musikkapelle, zwei Chöre singen. Die Kirche ist voll. Menschen tragen Sonntagskleidung: die Frauen Halstuch, die Männer Krawatte.
Zu Beginn erwähnt einer der Pfarrer, die gemeinsam die Messe halten, die Pfingstgeschichte. In der Bibel heißt es: “Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort.” So sei es auch hier. Wie schön, dass die Gemeindemitglieder zusammengekommen seien, um die Weihe von Pastor Horstmann zu feiern.
Die Messe in Sögel läuft noch, als in Werpeloh die Glocken zum Sonntagsgottesdienst läuten. Um elf Uhr, wie immer. Die Bänke sind ordentlich gefüllt. Egal, was im Nachbarort passiert.
Text und Optik
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