Bauern schlau

Bernd Schmitz ist Schweinezüchter. Und hat gelernt, wie man EU-Förderanträge schreibt. Sein Einsatz bescherte Werpeloh einen Geldregen aus Brüssel.

Wer durch Werpeloh spaziert, entdeckt ein aufgeräumtes Dorf – wie es so viele gibt im Emsland. Gefegte Fußwege, getrimmte Hecken, Bauernhöfe mit Buxbäumen. Doch wer genauer hinsieht, merkt, dass etwas anders ist. Es sind die kleinen Schilder, sie hängen am Pfarrhaus, am Dorfplatz, vor der Kirche. Auf ihnen steht: “Hier investiert Europa.”

Das Geld der Europäischen Union steckt in öffentlichen Gebäuden und Plätzen und einer Straße in Werpeloh. Alle gebaut oder saniert in den vergangenen zehn Jahren. Zwischen 2007 und 2014 erhielten die Werpeloher pro Kopf 124 Euro aus Brüssel. Zehnmal so viel wie die Nachbargemeinden. Dort sagen sie: Wie die Werpeloher muss man das machen. In Werpeloh sagen sie: Der Bernd hat das gemacht. Der Bernd hat Europa nach Werpeloh geholt.

Text und Optik

Robert Pausch
Nico Schmidt
Markus Sehl

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Bernd Schmitz, 64, würde das so nie sagen. Im Blaumann läuft er über seinen Hof am Rand von Werpeloh, 280 Schweine im Stall, auf seinen Feldern Mais, Getreide und Hanf. Mit wuchtigen Händen zieht er die Stalltür auf, schiebt eine Fuhre Futter zu seinen Ferkeln. Bauer Schmitz als Europa-Experte? Schmitz winkt ab. “Einer muss es machen, und manchmal war ich es”, sagt er.

Aber wie wurde aus dem Schweinezüchter ein Kenner von EU-Förderrichtlinien und Finanzierungskonzepten? Einer, der die Sprache der Brüsseler Bürokraten spricht und es versteht, deren Geld ins Emsland zu lenken?

Schmitz weiß nicht mehr, in welchem Jahr das alles begann. Und worum genau es bei seinem ersten Antrag ging. Aber er erinnert sich, dass er Anfang der 90er Jahre plötzlich 1500 D-Mark aus Brüssel überwiesen bekam, aus einem Fonds für Landwirte in strukturschwachen Regionen. “Wir haben damals alle solche Anträge geschickt. Und es hat geklappt”, sagt Schmitz. Europa kam nach Werpeloh.

Ein Jahrzehnt später, im Sommer 2005, Schmitz engagiert sich inzwischen im Gemeinderat, hat Werpeloh ein Problem. Das Pastorat droht einzustürzen. Die Kirche hat kein Geld, das Gebäude zu retten, es soll abgerissen werden. Schmitz fragt sich, ob die EU neben den Bauern nicht auch beim alten Pastorat helfen könnte? Er vertieft sich in die Förderprogramme und entdeckt, dass Brüssel kirchliche Projekte nur mit 30 Prozent unterstützt – Kommunen aber mit bis zu 60 Prozent. Schmitz kommt eine Idee. Die Gemeinde kauft kurzerhand der Kirche das marode Gebäude ab. Dann beantragt sie die Sanierung. Der Plan geht auf, die EU zahlt 120.000 Euro. Im Pastorat entstehen ein Archiv, eine Bibliothek und ein Raum für die Pfarrgemeinde. Schmitz’ erster Erfolg als Geldbeschaffer für die Gemeinde.

Für Brüssel sind die 120.000 Euro nur ein winziger Betrag. Für die Gemeinde ist es viel Geld. Der kommunale Haushalt beträgt in manchen Jahren nur rund 500.000 Euro. Braucht Werpeloh eine neue Straßenlaterne, muss das Geld an anderer Stelle gespart werden.

Noch bevor das Pastorat saniert ist, wählen die Werpeloher Schmitz in den Kreistag. Als Kreispolitiker erhält er für sein Ehrenamt monatlich 280 Euro plus Spesen. Vor allem aber erhält er Macht, erhält neue Möglichkeiten, Werpeloh zu helfen. Im Kreistag sitzt er neben dem Landrat in der CDU-Fraktion. Und was die CDU entscheidet, wird gemacht im Emsland.

Blaumann statt Brüssel: Bernd Schmitz im Schweinestall

Schon bald kommt die nächste Gelegenheit für Schmitz, zu beweisen, wie Geld aus Brüssel in Werpeloh landen kann. Die Europäische Union hat gerade das „Leader“-Programm zur Entwicklung ländlicher Regionen verlängert, von 2007 bis 2014 soll allein Deutschland dafür rund 910 Millionen Euro erhalten. Das Geld soll vor allem Initiativen vor Ort zugute kommen. In Brüssel beschreiben sie das so: “Lokale Akteure werden aktiv in die Ausarbeitung und Umsetzung integrierter Entwicklungskonzepte einbezogen.” In Werpeloh sagt Schmitz: “Du musst eine gute Idee in der Schublade haben”.

Und Werpeloh braucht bald wieder eine neue Idee. In der Dorfmitte verfällt das Jugendzentrum, die EU könnte helfen, doch die Förderrichtlinien des Leader-Programms sind streng. Die Projekte müssen innovativ sein und zukunftsweisend. Zumindest müssen sie so klingen. Ein heruntergekommenes Jugendzentrum aufzuhübschen, das reicht noch nicht.

An einem Sonntagmorgen sitzt Schmitz in seinem Wohnzimmer. Er hat das ZDF eingeschaltet. In der Sendung sind Jugendliche und Senioren zu sehen, die gemeinsam in einem Haus musizieren, basteln und singen. Solche Mehrgenerationenhäuser würden vielerorts gebaut, als Treffpunkte für Stadt- und Dorfgemeinschaften. Und Schmitz denkt sich, so machen wir’s, wir bauen ein “Mehrgenerationenhaus”.

Schmitz studiert erneut Richtlinien und Verordnungen. Er denkt sich: “Das ist alles von Menschen gemacht, also ist es auch von Menschen zu verstehen.” Die Bewerbung für das Projekt ist aufwendig. Die Planung des Mehrgenerationenhauses füllt Aktenordner, Schmitz muss ein 20-seitiges Antragsformular einreichen.

In Sögel, fünf Kilometer von Werpeloh entfernt, betreut ein EU-Regionalmanager eine Förderregion, zu der auch Werpeloh gehört. Zwischen 2007 und 2014 ist er daran beteiligt, 2,4 Millionen Euro auszuschütten. Schmitz präsentiert ihm seine Idee, das Jugendzentrum abzureißen und ein Mehrgenerationenhaus zu bauen. Der EU-Manager ist überzeugt. Also schreiben Schmitz und er ein Konzept, argumentieren, dass gerade im ländlichen Raum der Zusammenhalt zwischen den Generationen wichtig sei und es hierfür eine Anlaufstelle brauche. Schmitz wühlt sich durch die Förderrichtlinien, schaut, welche Punkte noch nicht erfüllt sind, wo er das Projekt noch förderfähiger schreiben muss. Sein Ziel: 100.000 Euro aus Brüssel. Die maximale EU-Fördersumme für Projekte dieser Art.

Die bekäme er allerdings nur, wenn er weitere Mittel einwerben kann. Schmitz hat bereits beim Landrat vorgesprochen, doch der sagt, mehr als 35.000 Euro könne er nicht genehmigen. Zu wenig für ein Projekt, das fast eine Million Euro kosten soll.

Der Dorfplatz. Fertiggestellt 2012. Gesamtkosten ca. 61.000 Euro, davon EU-Förderung ca. 29.000 Euro

Der Kirchenvorplatz. Gebaut 2016. Gesamtkosten ca. 120.000 Euro, davon EU-Förderung ca. 33.000 Euro

Das Mehrgenerationenhaus. Gebaut 2012. Gesamtkosten ca. 750.000 Euro, davon EU-Förderung ca. 100.000 Euro

Das Pastorat. Saniert 2009. Gesamtkosten ca. 240.000 Euro, davon EU-Förderung ca. 120.000 Euro

Die Straße „Zum Windberg“. Fertiggestellt 2009. Gesamtkosten ca. 318.000 Euro, davon EU-Förderung ca. 158.000 Euro

Schmitz legt sich einen Plan zurecht. “Die besten Ideen kommen mir auf dem Trecker”, sagt Schmitz, und so sei es auch damals gewesen. Schmitz überzeugt den Vorsitzenden seiner Fraktion, im Haushalt des Landkreises einen neuen Posten zu schaffen: für “Gemeinschaftsräume”. Als der Etat steht, sind die Werpeloher vorbereitet und beantragen die Mittel sofort, erst später kommen auch andere Gemeinden an das Geld. Der Landkreis zahlt Werpeloh für das Mehrgenerationenhaus 160.000 Euro, hinzu kommen Gelder aus dem Bistum und aus der Gemeinde. Damit hat Schmitz sein Ziel erreicht, die EU zahlt die maximale Fördersumme 100.00 Euro. Insgesamt sammelt der Landwirt so 750.000 Euro ein.

Als das am Ende doch nicht ganz reicht, packen die Werpeloher selbst an. Sie pflastern den Eingang, montieren die Außenleuchten. Auf Fotos aus dem Sommer 2012 steht Schmitz zwischen Erdhaufen und Pflastersteinen, schaufelt eine Grube und verlegt Abwasserrohre. Er sieht zufrieden aus.

Im September 2012 wird das Mehrgenerationenhaus eingeweiht. Ein großer Erfolg für Schmitz, für den Kommunalpolitik längst keine Nebensache mehr ist. In manchen Jahren stehen in seinem Kalender 115 Termine. Er spricht Grußworte auf Vereinsjubiläen, verleiht Urkunden auf Goldenen Hochzeiten und 90. Geburtstagen. Schmitz ist ein Repräsentant geworden – und Anpacker geblieben.

Im Jahr 2014 engagiert sich Schmitz für sein bisher größtes Projekt. Gemeinsam mit CDU-Fraktionskollegen kämpft er für einen regionalen Naturpark. Der soll mehr als 50.000 Hektar groß werden, ein Sechstel des Emslandes. Werpeloh würde mitten in dem Gebiet liegen. Die Buchenwälder und Birkenhaine, Moore und Steingräber sollen zu einem Tourismusgebiet verbunden werden. So etwas finanziert die EU gerne. Und das mit Förderprogrammen, an deren Gelder Werpeloh bisher nicht kam. Schmitz, begeistert von der neuen Idee, bemerkt zu spät, dass er damit die Seinen gegen sich aufbringt. Die Landwirte wittern rigide Vorschriften für die Nutzung ihrer Felder und Wälder. Einige sprechen von kalter Enteignung. Und gegen die Landwirte geht in der Emsland-CDU wenig. Als im September 2016 die Emsländer einen neuen Kreistag wählen, steht Schmitz’ Name nicht auf dem Wahlzettel.

Im Sommer 2017 sitzt Schmitz in seinem Esszimmer und stützt sich mit beiden Händen auf die Tischplatte. “Das geht nicht spurlos an mir vorbei.” Schmitz hat ein politisches Sabbatjahr eingelegt. Wenn er über seine Zeit in der Politik redet, lacht er viel, er freut sich über seine kleinen und großen Erfolge, über die rund 400.000 Euro, die er mit nach Werpeloh geholt hat. Nein, verbittert wirkt Schmitz nicht. Er, der immer wieder betont, dass er das natürlich nicht allein geschafft hat. Für solche Projekte brauche es viele Menschen, die mit anpacken.

Aber es braucht eben auch Organisatoren und Antreiber. Leute, von denen am Ende alle sagen, dass es ohne sie nicht gegangen wäre. Bernd Schmitz ist einer von ihnen.

Text und Optik

Robert Pausch
Nico Schmidt
Markus Sehl

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Unsichtbare Nachbarn

In Werpeloh wohnen mehr als hundert Arbeiter aus Osteuropa. Es gibt kein Miteinander, aber auch kein Gegeneinander. Wie kann das sein?

Nach der Frühschicht in der Fleischfabrik braucht Andrejs Cans ein Bier. Cans, 27, aus Lettland, sitzt in der Küche, stopft Zigaretten und öffnet eine Dose. Müde schaut er aus dem Fenster. Er hört die Rufe vom Werpeloher Sportplatz, keine 400 Meter entfernt, der Fußballverein richtet ein Pokalturnier aus. Das ganze Dorf geht dorthin. Von seinem Platz hinter dem Fenster sieht Cans die Menschen vorbeilaufen, während er dreht und raucht und trinkt.

Zur selben Zeit spaziert 40 Kilometer entfernt Madalina Nitu, 27, mit ihrem Freund durch Cloppenburg und isst Zitroneneis. Sie schlendern und reden und genießen das Leben der Kleinstadt, in der sie lieber ihre Freizeit verbringen als in Werpeloh im Emsland, ihrem Wohnort.

In Werpeloh kennt fast niemand diese Namen: Andrejs Cans und Madalina Nitu. Sie sind Unsichtbare in einem Dorf, das nur 1200 Einwohner hat, und in dem es häufig heißt, jeder kenne jeden. Doch die rund 100 Billigarbeiter aus Europas Osten bleiben außen vor. Seit Jahrzehnten leben Menschen wie Cans und Nitu in Werpeloh. Sie kommen und gehen, manche bleiben einige Monate, andere fünf Jahre. Es gibt kein Gegeneinander, aber auch kein Miteinander. Wie kann das sein, in einem so winzigen Ort?

Text und Optik

Susan Djahangard
Steffi Hentschke
Martin Pfaffenzeller
Jonas Schaible
Daniel Sippel

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Wer die Unsichtbaren treffen will, muss schon an den Türen von Häusern klingeln, deren Gras im Vorgarten etwas länger ist als nebenan, und deren Briefkästen mit Namensschildern vollgeklebt sind. Die meisten Unsichtbaren sprechen kein Deutsch und kein Englisch. Viele winken ab. Andere erzählen. Die Ungarin etwa, die 500 Meter von der Kirche entfernt wohnt und nicht weiß, wo die Kirche steht. Der Pole, der von einer eigenen Spedition träumt und alleine angeln geht. Der Slowake, der sich ein Haus mit zwölf anderen Menschen teilt.

Auch Andrejs Cans und Madalina Nitu gehören zu dieser Parallelwelt. Sie erzählen, was sie zum Aufbruch trieb. Wieso sie gerne in Deutschland leben. Und warum sie trotzdem nie ganz angekommen sind.

Nach Feierabend stopft Andrejs Cans in seiner Küche erst mal Zigaretten.
In ihrem Schlafzimmer schauen Madalina Nitu und ihr Freund rumänisches Fernsehen.

Cans stammt aus einer Kleinstadt im Süden von Lettland. Vor fünf Jahren fragte ein Freund, ob er ihn nach Deutschland begleiten wolle. Besser, als für wenig Geld in lettischen Wäldern Holz zu hacken. Eine Weile arbeitete Cans in Bremerhaven. Dann hörte er von Jobs in einer Fleischfabrik im Emsland. Ein Subunternehmer der Fabrik besorgte einen Arbeitsvertrag, eine Wohnung und ein Fahrrad. So kam Cans vor einem Jahr nach Werpeloh.

Madalina Nitu wuchs in Slatina auf, Südrumänien, 70 000 Einwohner. Irgendwann ging ihr Freund nach Deutschland, um auf dem Bau zu arbeiten. Sie brach ihr Studium ab und kam nach. Mach, was du willst, sagte ihre Mutter. 2011 war das. Jetzt packt Madalina Nitu Kuchen in Kartons, in einer Fabrik nicht weit von Werpeloh, Schichtdienst, oft am Abend. “So einen Job finde ich auch in Rumänien”, sagt sie. Aber das Leben in Deutschland sei besser. Die Straßen haben keine Schlaglöcher, die Häuser sind größer, die Autofahrer vorsichtiger. Nur eine Wohnung als Rumänin zu finden war schwierig. Die meisten Vermieter hätten Vorurteile, sagt sie.

Cans Tag beginnt meist, wenn Werpeloh schläft. Wenn ihm allein die Lampe seines Fahrrads den Weg zur fünf Kilometer entfernten Fleischfabrik weist. Acht bis zehn Stunden eingeschweißtes Fleisch vom Band ziehen und einscannen, vom Band ziehen und einscannen, vom Band ziehen und einscannen. „Die Arbeit“, sagt er, „ist gut. Einfach, gut bezahlt“. Er klagt nicht über die Arbeitszeiten. Wenn Werpeloh wach ist, ist er eben müde.

Und wenn er einmal nicht müde ist, zieht er sich trotzdem zurück. Er wohnt direkt neben der Dorfkneipe, in die er noch nie gegangen ist. Er spricht kein Deutsch und kaum Englisch, er kam, um zu arbeiten, sonst nichts. Hat er frei, hängt Cans im Hinterhof ab oder in seinem Zimmer. Zockt Playstation. Streamt Youtube-Videos. Tippt Whatsapp-Nachrichten. Er war bei der Armee, kann schießen, aber vom Schützenverein hat er noch nicht gehört.

Nach der Arbeit zieht Cans sich zurück. Er spielt lieber Playstation als Fußball, sagt er.

Bald wollen Nitu und ihr Freund heiraten, in Rumänien bei ihren Familien.

Cans diente in Lettland beim Militär. Der Schützenverein in Werpeloh interessiert ihn nicht.

Nitu lebt zusammen mit ihrem Freund, sie sind oft unterwegs. In Werpeloh sei einfach nichts los.

Cans trinkt viel und raucht viel. Oft sitzt er in seinem Hinterhof, direkt neben der Dorfkneipe.

Nitu und ihr Freund vor ihrer Wohnung. Zu den Werpelohern nebenan haben sie keinen Kontakt.

Madalina Nitu wollte von Anfang an Deutsch lernen. Einen Sprachkurs konnte sie sich nicht leisten. Also hörte sie ihren Arbeitskollegen aufmerksam zu. Es klappte. Deutsche Freunde gefunden hat sie trotzdem nicht. Dass sie in Vereinen suchen müsste, hat ihr nie jemand gesagt.

Dafür freundete sie sich mit einer Polin an. Mit ihr spaziert sie oft durch Werpeloh, vorbei an den Klinkerhäusern und über die Felder. Sie kauft beim Bäcker ein. Dass die Werpeloher sie kennenlernen wollen, glaubt sie nicht mehr. Am Anfang grüßte sie, sagt sie. Zu oft habe sie keine Antwort bekommen. Hin und wieder sei sie beschimpft worden. Erst neulich, bei einem Spaziergang, habe die Tochter ihrer Freundin zu einer Frau „Hallo“ gesagt. Die habe sich weggedreht. Für Nitu ist klar: Mit den Ausländern wollten die Werpeloher nichts zu tun haben. Und sie laufe niemandem hinterher. “Ich habe auch Respekt vor mir”, sagt sie.

Ihre Nachbarn erzählen, doch, doch, da wohnten wohl Rumänen. „Eine Frau spricht auch gut Deutsch“, sagt einer. „Neulich haben die Rumänen ein Paket angenommen“, sagt ein anderer. „Sie grüßen freundlich“, sagen beide. Und weiter? Nichts weiter.

In der Kirche von Werpeloh bedeckt eine Collage eine etwa zehn Meter lange Wand. “Wir sind Werpeloh” steht auf dem selbst gebastelten Dorfplan, mit Straßennamen und Häusern und Hausnummern. Neben fast allen stehen die Namen der Bewohner, daneben klebt ein Foto von ihnen. Doch es klaffen Lücken. Kreuzkamp 18, 20, 24. Die 22: fehlt. Die Collage ist einige Jahre alt, schon damals schienen die Unsichtbaren nicht zu existieren.

Es gibt in Werpeloh kein Ausländerviertel. Es gibt nur Ein-Haus-Ghettos, Enklaven des Fremdseins mit Vorgarten und Ziegeldach.

Wer gebürtige Werpeloher fragt, warum sie die Fremden kaum kennen, hört immer die gleichen Sätze: Die arbeiteten so viel, oft auch am Wochenende, sie hätten keine Zeit für die Vereine und kein Interesse daran. Die meisten sprächen gar kein Deutsch. Viele tränken, manche zu viel. Einige versackten. Fast alle gingen bald wieder, nach ein paar Monaten oder einem Jahr.

Die meisten der Unsichtbaren wollen tatsächlich nicht bleiben. Jedenfalls nicht lange. Sie stanzen Metall in einer Werpeloher Fabrik. Sie zerlegen Schweine in einer Großschlachterei. Sie mauern auf Baustellen und schweißen Schiffstoiletten. Viele schuften sechs Tage die Woche im Schichtbetrieb, sammeln Urlaub an. Alle paar Monate fahren sie für eine Weile nach Hause. Viele sparen für einen Lastwagen, eine Wohnung, ein Haus, um sich in der alten Heimat etwas aufzubauen. Oder sie wollen in Deutschland bleiben, nur nicht in Werpeloh. So wie Madalina Nitu, die in eine Stadt ziehen möchte, vielleicht nach Meppen.

Man kann sie alle verstehen. Die alteingesessenen Werpeloher, die irgendwann aufhörten, sich zu interessieren. Andrejs Cans, der nach einem langen Tag lieber zuhause bleibt. Madalina Nitu, die genug davon hat, ins Leere zu grüßen. Vielleicht darf es so etwas auch geben im Dorf: Großstadtanonymität.

Wenige Tage vor dem Fußballturnier biegen zwei Kleinbusse auf einen Hof neben einem Mehrfamilienhaus ein. Die Schiebetüren werden aufgestoßen, dreizehn Frauen und Männer steigen aus, mit Plastiktüten in den Händen. Neue Werpeloher, aus Polen und der Slowakei, 13 neue Unsichtbare, die man sehen kann, wenn man will.

Text und Fotos

Susan Djahangard
Steffi Hentschke
Martin Pfaffenzeller
Jonas Schaible
Daniel Sippel

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Die Gülle-Influencer

Sie heften Kameras an Mähdrescher, filmen sie mit Drohnen aus der Luft. Lars und Laurenz betreiben den Youtube-Kanal „Emsland Agrarvideos“. Sie sind: 13 und 14 Jahre alt

Video

Marius Buhl
Frederik Seeler
Daniel Sippel

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Mit ihm in die neue Zeit

Auch im tief katholischen Emsland muss sich die Kirche verändern. Wo der Priester-Nachwuchs fehlt, werden Seelsorger zu Managern. Keine einfache Mission für Pfarrer Horstmann.

Wenn Bernhard Horstmann mit seinem Audi durch das Dorf Werpeloh rollt, am Revers seines schwarzen Sakkos ein kleines Kreuz, dann kann er viele Hinterlassenschaften seines Vorgängers sehen: die Franziskus-Statue vor der Kirche, das indonesische Batak-Haus-Museum, das Kriegerdenkmal. All das hat Horstmanns Vorgänger geschaffen: Pater Matthäus, Kapuzinerbruder, 30 Jahre katholischer Dorfpfarrer von Werpeloh.

30 Jahre, in denen aus Matthäus Bergmann “unser Pater” wurde. Einer, über den die Werpeloher erzählen, dass er ihr Denken verändert habe. Das sagen sogar die, die ihn nur als Kinder erlebt haben. Ein Dorfheiliger.

Aber Horstmann, raspelkurze Haare, eckige Brille, kein Blatt vor dem Mund, sieht die Spuren seines Vorgängers Matthäus selten. Manchmal ist er tagelang nicht in Werpeloh. Er hat noch sechs weitere Gemeinden zu betreuen, alles in allem fünf Friedhöfe, sechs Kindergärten, 9500 Seelen, jährlich 110 Beerdigungen und noch einmal so viele Taufen. Er hat immer zu tun und selten Zeit.

Horstmann ist kein Dorfheiliger und er will auch keiner werden. Er ist die Antwort der katholischen Kirche auf die neue Zeit. Wo Priester fehlen und sich Kirchenbänke leeren, wo Einnahmen wegbrechen und Gemeinden zusammengelegt werden, da ist die Zeit der Manager gekommen. Die Zeit von Menschen wie Bernhard Horstmann.

Text und Optik

Robert Pausch
Stefanie Pichlmair
Jonas Schaible

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Es gibt nur ein Problem: Die Werpeloher hadern mit der neuen Zeit. Und sie hadern mit Bernhard Horstmann. Lieber erinnern sie sich an Pater Matthäus, an eine Zeit, als der Pfarrer mal eben in die Küche platzte und das Abendbrot segnete. Kirche und Dorf, das war einmal eine untrennbare Einheit – und heute?

Horstmann gibt Gas. Er hat einen Termin in einem Kindergarten im Nachbardorf Sögel, vier Kilometer von Werpeloh entfernt. 30 Minuten hat er für das Gespräch eingeplant. “In der Woche habe ich 40 bis 45 Stunden mit Kundenkontakt”, sagt er. Dazu kommt Arbeit zu Hause, etwa 50 Stunden sammeln sich über die Woche an.

Sein Vorgänger Pater Matthäus musste nicht streng planen, als er 1973 nach Werpeloh kam. Er konnte flanieren, hämmern, sägen, plaudern. Er war in vielem kein typischer Geistlicher. Geburtstagsbesuche erledigte er gern im Blaumann; er glaubte an Außerirdische und zog einmal für eine Woche ins Moor, um sie willkommen zu heißen, wie ein Freund freimütig erzählt; er sandte Bauern aus, um magische Findlinge zu suchen, die er zu einem Steinkreis anordnete; er ließ schon früh Messdienerinnen zu und stand dem Zölibat kritisch gegenüber. Obwohl es also genug gab, um sich an ihm zu reiben, nahm er das Dorf schnell für sich ein. Charismatisch nennen ihn fast alle. Einen Menschenfischer manche.

Einige Geschichten über Matthäus klingen fast biblisch. Einmal soll eine Frau zu ihm gekommen sein, schwanger mit Zwillingen, die Ärzte sollen aus medizinischen Gründen zur Abtreibung geraten haben. Nicht nötig, ich sehe die Kinder in deiner Küche spielen, habe Matthäus gesagt. Und so sei es gekommen. Als er selbst schwer krank wurde, pflegten ihn die Männer des Dorfes über mehrere Monate hinweg im Schichtdienst, trugen den greisen Mann ins Bett. Zu seinem Tod gravierten die Werpeloher Matthäus’ Autokennzeichen in eine Gedenktafel: EL – MT 28. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Selbst im Priestergewand hat Horstmann sein Handy dabei.

Horstmann ist für 9500 Katholiken zuständig.

Horstmann kann mit Menschen – er will nur nicht immer

Bernhard Horstmann sieht sich selbst als Manager.

Fünf Jahre nach Matthäus’ Tod kam Bernhard Horstmann in die Pfarrgemeinschaft Sögel. Dass er die Werpeloher aufforderte, sich von ihrem alten Pater abzunabeln, tragen ihm einige immer noch nach. “Mein Fall ist er nicht”, ist auch deshalb eine häufige Werpeloher Antwort auf die Frage nach Horstmann.

In Sögel steigt Horstmann aus dem Wagen und eilt in den Kindergarten. Mit zwei Erzieherinnen bespricht er das Programm für eine Kindermesse. Eine der Frauen sagt: “Ich habe einen Text aus der Kinderbibel fürs Evangelium rausgesucht, ich hoffe, der ist Dir nicht zu… naja, ist halt kindgerecht, weißt du?” –  “Ja… ja…”, sagt Horstmann. Wenig später, noch während sie die letzten Details klären, rafft er seine Unterlagen zusammen.

“Ich bin kein Saure-Gürkchen-und-Tomaten-Pfarrer”, sagt Horstmann, obwohl er plaudern kann, wenn er will, und scherzen sowieso. “Aber ich ertrage es nicht, wenn es zu tüddelig wird.” Seine Termine pflegt er in seinem Smartphone. Er sagt “ich ticker dir das rüber”, wenn er Nachrichten verschickt. Ein Manager, so sieht er sich. Nur so kann er sieben Gemeinden, ja, was? Koordinieren? Verwalten? Im Griff halten?

Großgemeinden wie seine gibt es erst seit kurzem. Noch vor 20 Jahren hatte jedes Dorf im Umkreis einen eigenen Geistlichen. Aber überall in Deutschland werden die “pastoralen Räume” vergrößert, wie es in der Verwaltungssprache der Amtskirchen heißt. Von 2008 bis 2018 soll im Bistum Osnabrück, in dem Werpeloh liegt, die Zahl der Pfarrgemeinden von 250 auf 72 schrumpfen. Vor allem, weil es keinen Nachwuchs gibt.

Seit Jahren werden weniger und weniger Priester geweiht. Dieses Jahr fand im Bistum erstmals keine einzige Weihe statt. Überall füllen Pfarrer aus dem Ausland die Lücken. Auch in der Pfarreiengemeinschaft um Werpeloh hilft seit Jahren ein Pater aus Indien. Dazu kommen derzeit drei Diakone, zwei Pastoralreferenten und ein Pfarrer im Ruhestand. Aber sie alle kümmern sich um alle Gemeinden. Niemand ist heute nur für Werpeloh da.

So viele katholische Priester wurden in Deutschland geweiht.

Noch 1971 bekam Werpeloh eine neue Kirche. 500 Leute fasst der flache Rundbau – jeden zweiten Werpeloher. Doch der Platz wird nicht mehr gebraucht, denn die Bindung an die Kirche hat nachgelassen. Sogar hier, im Emsland, diesem Zentrum der katholischen Gegenkultur, wo sich vor 150 Jahren ein Netz des Widerstands gegen das protestantische Preußen bildete. Noch immer zählt die Landjugend in Werpeloh an die 300 Mitglieder, der katholische Sportverein 250. Aber auch hier leeren sich die Kirchenbänke.

So verstärken sich die Mängel: Weil weniger zur Messe gehen und weniger Priester geweiht werden, muss ein Pfarrer immer mehr Gemeinden versorgen. Die Gläubigen fühlen sich vernachlässigt und kommen seltener zur Messe. Mit Wehmut erinnern sie sich an einen wie Pater Matthäus, der immer da gewesen sei.

Noch als Matthäus im Rollstuhl saß, habe er darauf bestanden, so weiterzumachen wie bisher. Ich bin doch für die Menschen da, habe er gesagt. Auch daran soll er kaputt gegangen sein.

An einem heißen Vormittag steht Horstmann in Sandalen auf der Wiese neben der Kirche. Um ihn ein Kreis von Kindern und Jugendlichen, auf dem Weg ins Pfingstlager. Horstmann geht herum, in der Hand ein Gefäß mit Weihwasser, und segnet alle. Die Kleinen quieken, wenn sie das Wasser trifft. Die Älteren schauen bemüht ungerührt. Und zucken dann doch kurz. Horstmann lächelt. Es macht ihm sichtlich Freude.

Er, der auch als Notfallseelsorger arbeitet, sagt: “Die Leute finden immer, der Pastor müsse mehr Seelsorge machen, dabei bin ich ja dauernd unterwegs.” Bei 9500 Menschen könnte er sich wundlaufen und bis zur Erschöpfung aufreiben, sie würden es nicht einmal merken.

Er schuftet, aber er gibt sich nicht selbst auf dabei. Im Fitnessstudio trägt er Ohrstöpsel, damit ihn niemand anspricht. Einmal die Woche hat er einen Termin mit sich selbst und seiner Wasserpfeife. Er steht sogar im Kalender. Zwei Stunden Ruhe. Dann hört er am liebsten Peter Fox. Seine Mitarbeiter ermuntert er, auf sich zu achten und auch mal Urlaub zu nehmen.

Barfuß: Manche nennen ihn Menschenfischer

Magische Findlinge: Matthäus’ war auch naturreligiös

Die Kinder von damals erzählen heute begeistert von Matthäus

Man könnte sagen, Horstmann ist ein Technokrat im Talar. Man könnte aber auch sagen: Horstmann ist genau das, was die katholische Kirche gerade braucht. Auf jeden Fall ist er das, was sich die Kirche gerade wünscht. „Wir arbeiten an einer Leitungskultur auch auf Basis der aktuellen Managementforschung“, sagt die Leiterin der Seelsorge im Bistum Osnabrück. Besonders wichtig dabei: eine „postheroische Führung“. Künftig könnten  Priester womöglich sogar einzelne Gemeinden nur noch „begleiten“, nicht mehr „leiten“. Für Horstmann heißt das, auch Laien müssen Verantwortung übernehmen. „Kirche muss sich von Hierarchien lösen“, sagt er.

Wenn Horstmann so redet, hört sich das alles sehr schlüssig an, zeitgemäß, immer realistisch. Nur nicht spirituell. Klingt so Kirche heute?

Am Pfingstsonntag 2017 feiert Horstmann seine Silberhochzeit. So nennt er sein 25-jähriges-Weihejubiläum. Zur Feier hat er alte Weggefährten und Verwandte nach Sögel geladen, den Nachbarort von Werpeloh. Im zweistündigen Gottesdienst spielt die Musikkapelle, zwei Chöre singen. Die Kirche ist voll. Menschen tragen Sonntagskleidung: die Frauen Halstuch, die Männer Krawatte.

Zu Beginn erwähnt einer der Pfarrer, die gemeinsam die Messe halten, die Pfingstgeschichte. In der Bibel heißt es: “Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort.” So sei es auch hier. Wie schön, dass die Gemeindemitglieder zusammengekommen seien, um die Weihe von Pastor Horstmann zu feiern.

Die Messe in Sögel läuft noch, als in Werpeloh die Glocken zum Sonntagsgottesdienst läuten. Um elf Uhr, wie immer. Die Bänke sind ordentlich gefüllt. Egal, was im Nachbarort passiert.

Text und Optik

Robert Pausch
Stefanie Pichlmair
Jonas Schaible

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Neue Bauernregeln

Auch im Emsland geben viele Landwirte auf. Milchbauer Heckmann und sein Nachbar haben durchgehalten – mit ganz verschiedenen Strategien. Nur einer von ihnen wird überleben.

Wenn in Werpeloh der Tag anbricht, steigt Wilhelm Heckmann in seine Gummistiefel, lehnt sich Hans-Georg Geers in seinem Ledersessel zurück. Heckmann, graue Locken und Dreitagebart, muss jeden Morgen in den Kuhstall. Geers, Kurzhaarschnitt und kariertes Hemd, muss nur eine App öffnen. Darüber regelt er Futterzufuhr und Raumtemperatur in seinem Schweinestall.

Draußen, vor den Höfen der beiden im alten Ortskern, steht noch immer eine Allee alter Eichen. Sie sind übrig geblieben aus einer Zeit, in der Werpeloh im Emsland ein Bauerndorf war. Die Höfe aber, die Ställe, die Technik, die Arbeit, all das hat sich in den vergangenen Generationen extrem verändert.

Früher lebte das Dorf vorwiegend von Roggen und Weizen, Kühen und Schweinen. 1950 existierten noch 74 Höfe, seitdem gibt ein Bauer nach dem anderen auf – so wie überall in Deutschland. Heckmann und Geers gehören zu den letzten 15 Landwirten im Dorf. Beide sagen: In zehn Jahren wird es nur noch fünf, sechs Bauern geben. Beide ahnen: Nur einer von ihnen wird überleben.

Text und Optik

Marius Buhl
Susan Djahangard
Steffi Hentschke
Jonas Schaible

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Heckmann und Geers, 55 und 57 Jahre alt, stammen aus Bauernfamilien mit jahrhundertelanger Tradition. Früher lebten die Bauern allein im Rhythmus der Natur. Säen und ernten, mästen und schlachten. So war es noch, als Heckmann und Geers Jungbauern waren. Sie wussten alles über die Abhängigkeit von der Natur: Trockenheit, Missernten, Seuchen, damit waren sie vertraut. Nicht vertraut waren sie mit der zunehmenden Abhängigkeit von der Politik.

Geers’ Familie hatte von allem etwas, Kühe, Schweine, Hühner. In den 1960er Jahren spezialisierte sich Vater Geers auf Schweinemast. Er war vorbereitet, als Supermärkte aufkamen und Schinken, Wurst und Koteletts jederzeit für alle verfügbar sein sollten. Heute hält Hans-Georg Geers 4000 Tiere, gehört zu den größten Schweinebauern im Dorf. Die Voraussicht seines Vaters hat ihn geprägt: „Als Landwirt und Unternehmer bleibt man nie stehen, es geht immer weiter.”

Wilhelm Heckmann beim täglichen Melken. Er ist einer der letzten Milchbauern in Werpeloh.

Heckmanns halten seit jeher nur Kühe. Nach der Schule stand Wilhelm Heckmann bei seinem Vater im Stall, massierte den Tieren die Beine, putzte die Euter. Heckmann erinnert sich gut an diese Zeit, in der es in Werpeloh noch eine eigene Molkerei gab. 1974 bauten er und sein Vater einen neuen Stall für die 70 Tiere. In einem Herdenbuch kann er nachlesen, welche Kuh von welcher Kuh geboren wurde – seine Tiere sind die Nachkommen der Tiere seines Vaters. „Ich hänge an den Kühen, das ist nicht so anonym wie mit den Schweinen. Du kennst deine Tiere, deinen Stall.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg päppelte die Politik die Landwirtschaft mit Zuschüssen auf, um schnell unabhängig von Lebensmittelimporten zu werden. Bald produzierten die Landwirte zu viel, vor allem zu viel Milch. 1984 führte die EU eine Quote ein: Ein Bauer durfte nur noch eine bestimmte Menge Milch verkaufen, bekam dafür aber einen Mindestpreis garantiert. Das sicherte auch Heckmann ein solides Einkommen.

Wenige Jahre später suchte die Bundesregierung nach Alternativen zu Öl und Gas und begann, erneuerbare Energien zu fördern. Das sprach sich auch in Werpeloh herum. Anfang der 1990er Jahre überlegten die ersten Bauern, Windräder auf ihre Felder zu stellen. Aber nur zwei Landwirte wagten das Experiment, mit Erfolg. Die Räder machten kaum Arbeit, brachten viel Geld. Schweinemäster Geers wollte nachziehen, doch die Gemeinde genehmigte keine weiteren Anlagen. Er schwor sich: „So eine Chance verpasse ich nicht noch einmal, wenn es um regenerative Energien geht!“

Hans-Georg Geers vor der Biogasanlage. Die Hälfte seiner Einnahmen gewinnt er aus Strom und Wärme.

Dabei waren die Zeiten für die Bauern nicht schlecht. Auch nicht für Milchbauern wie Heckmann, die durch die Quote vor zu hartem Konkurrenzkampf geschützt waren. Er machte weiter wie immer, während sich seine Branche langsam veränderte. Zunehmende Nachfrage aus Asien ließ die Milchpreise steigen. Die EU lockerte die Quote, öffnete den Markt, die Preise fielen. Das Wettrennen begann. Wenige expandierten, viele mussten schließen.

In Brüssel kippten Bauern ihre nun wertlose Milch den Politikern vor die Füße. In Berlin schaffte die Bundesregierung neue Anreize für den Ausbau erneuerbarer Energien. Jetzt schlug auch Schweinemäster Geers zu. Mit einem Nachbarn ließ er eine Biogasanlage bauen. Aus Gülle und Mais entstehen darin Strom und Wärme. Heute sichert die Anlage Geers fast 50 Prozent seiner Einnahmen. “Für uns ein wichtiges zweites Standbein“, sagt er. „Besonders in den letzten Jahren, die schwierig waren für uns Schweinebauern.“

Heckmann hätte auch gern eine Biogasanlage gehabt. Dafür hätte er sich mit anderen Bauern zusammenschließen müssen, weil er allein weder genug Gülle noch genug Mais produziert. Noch immer träumt er von einer Anlage, kleiner als die von Geers, die er sich mit den anderen beiden Milchbauern im Dorf teilen könnte. Gefragt, ob sie Interesse haben, hat er sie nie. Mittlerweile fördert die Bundesregierung neue Biogasanlagen kaum noch.

Manche der Werpeloher Bauern, die nun verschwunden sind, hätten es womöglich gemeinschaftlich geschafft: durch geteilte Investitionen und geteilte Risiken. Zum Beispiel durch Biogasanlagen, die sie gemeinsam betreiben. In anderen Orten gibt es das, in Werpeloh nicht. Vielleicht fehlte der Wille, vielleicht die Gelegenheit.

Heckmann bleibt nur eine Möglichkeit um seinen Hof zu retten: Er muss investieren, in eine geteilte Biogasanlage und einen modernen Stall mit Melkroboter. Mit einem Kredit könnte er sich das leisten, 42 Hektar Ackerland hat er, für die Bank eine Sicherheit. Äcker im Emsland sind extrem teuer. Biogas-Bauern wie Geers bestellen große Felder, um ausreichend Mais für die Gärung zu ernten. Damit haben sie die Pachtpreise in absurde Höhen getrieben. In einem modernen Stall würden sich Heckmanns Kühe wohler fühlen, mehr Milch geben, der Roboter würde effizienter melken. Mehr Milch hieße für ihn mehr Geld. Aber ein hoher Kredit mit langer Laufzeit? Jede vernünftige Bank würde ihm davon abraten. Er will in acht Jahren in Rente gehen und er hat keinen Nachfolger. 200 Jahre Familientradition, Milchbauer Heckmann wird sie wohl beenden. „Der Gedanke ans Aufhören schmerzt sehr”, sagt er.

Biogas-Bauer Geers sagt, es sei jedes Mal ein Schock, wenn einer von ihnen aufgeben müsse. Er sagt auch, dass er noch mehr Mais anbauen wolle und deshalb noch mehr Flächen brauche. Er will weiter wachsen. Und das geht nur, wenn noch mehr Bauern weichen.

Text und Fotos

Marius Buhl
Susan Djahangard
Steffi Hentschke
Jonas Schaible

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