Unsichtbare Nachbarn
In Werpeloh wohnen mehr als hundert Arbeiter aus Osteuropa. Es gibt kein Miteinander, aber auch kein Gegeneinander. Wie kann das sein?
Nach der Frühschicht in der Fleischfabrik braucht Andrejs Cans ein Bier. Cans, 27, aus Lettland, sitzt in der Küche, stopft Zigaretten und öffnet eine Dose. Müde schaut er aus dem Fenster. Er hört die Rufe vom Werpeloher Sportplatz, keine 400 Meter entfernt, der Fußballverein richtet ein Pokalturnier aus. Das ganze Dorf geht dorthin. Von seinem Platz hinter dem Fenster sieht Cans die Menschen vorbeilaufen, während er dreht und raucht und trinkt.
Zur selben Zeit spaziert 40 Kilometer entfernt Madalina Nitu, 27, mit ihrem Freund durch Cloppenburg und isst Zitroneneis. Sie schlendern und reden und genießen das Leben der Kleinstadt, in der sie lieber ihre Freizeit verbringen als in Werpeloh im Emsland, ihrem Wohnort.
In Werpeloh kennt fast niemand diese Namen: Andrejs Cans und Madalina Nitu. Sie sind Unsichtbare in einem Dorf, das nur 1200 Einwohner hat, und in dem es häufig heißt, jeder kenne jeden. Doch die rund 100 Billigarbeiter aus Europas Osten bleiben außen vor. Seit Jahrzehnten leben Menschen wie Cans und Nitu in Werpeloh. Sie kommen und gehen, manche bleiben einige Monate, andere fünf Jahre. Es gibt kein Gegeneinander, aber auch kein Miteinander. Wie kann das sein, in einem so winzigen Ort?
Text und Optik
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Wer die Unsichtbaren treffen will, muss schon an den Türen von Häusern klingeln, deren Gras im Vorgarten etwas länger ist als nebenan, und deren Briefkästen mit Namensschildern vollgeklebt sind. Die meisten Unsichtbaren sprechen kein Deutsch und kein Englisch. Viele winken ab. Andere erzählen. Die Ungarin etwa, die 500 Meter von der Kirche entfernt wohnt und nicht weiß, wo die Kirche steht. Der Pole, der von einer eigenen Spedition träumt und alleine angeln geht. Der Slowake, der sich ein Haus mit zwölf anderen Menschen teilt.
Auch Andrejs Cans und Madalina Nitu gehören zu dieser Parallelwelt. Sie erzählen, was sie zum Aufbruch trieb. Wieso sie gerne in Deutschland leben. Und warum sie trotzdem nie ganz angekommen sind.
Cans stammt aus einer Kleinstadt im Süden von Lettland. Vor fünf Jahren fragte ein Freund, ob er ihn nach Deutschland begleiten wolle. Besser, als für wenig Geld in lettischen Wäldern Holz zu hacken. Eine Weile arbeitete Cans in Bremerhaven. Dann hörte er von Jobs in einer Fleischfabrik im Emsland. Ein Subunternehmer der Fabrik besorgte einen Arbeitsvertrag, eine Wohnung und ein Fahrrad. So kam Cans vor einem Jahr nach Werpeloh.
Madalina Nitu wuchs in Slatina auf, Südrumänien, 70 000 Einwohner. Irgendwann ging ihr Freund nach Deutschland, um auf dem Bau zu arbeiten. Sie brach ihr Studium ab und kam nach. Mach, was du willst, sagte ihre Mutter. 2011 war das. Jetzt packt Madalina Nitu Kuchen in Kartons, in einer Fabrik nicht weit von Werpeloh, Schichtdienst, oft am Abend. “So einen Job finde ich auch in Rumänien”, sagt sie. Aber das Leben in Deutschland sei besser. Die Straßen haben keine Schlaglöcher, die Häuser sind größer, die Autofahrer vorsichtiger. Nur eine Wohnung als Rumänin zu finden war schwierig. Die meisten Vermieter hätten Vorurteile, sagt sie.
Cans Tag beginnt meist, wenn Werpeloh schläft. Wenn ihm allein die Lampe seines Fahrrads den Weg zur fünf Kilometer entfernten Fleischfabrik weist. Acht bis zehn Stunden eingeschweißtes Fleisch vom Band ziehen und einscannen, vom Band ziehen und einscannen, vom Band ziehen und einscannen. „Die Arbeit“, sagt er, „ist gut. Einfach, gut bezahlt“. Er klagt nicht über die Arbeitszeiten. Wenn Werpeloh wach ist, ist er eben müde.
Und wenn er einmal nicht müde ist, zieht er sich trotzdem zurück. Er wohnt direkt neben der Dorfkneipe, in die er noch nie gegangen ist. Er spricht kein Deutsch und kaum Englisch, er kam, um zu arbeiten, sonst nichts. Hat er frei, hängt Cans im Hinterhof ab oder in seinem Zimmer. Zockt Playstation. Streamt Youtube-Videos. Tippt Whatsapp-Nachrichten. Er war bei der Armee, kann schießen, aber vom Schützenverein hat er noch nicht gehört.
Madalina Nitu wollte von Anfang an Deutsch lernen. Einen Sprachkurs konnte sie sich nicht leisten. Also hörte sie ihren Arbeitskollegen aufmerksam zu. Es klappte. Deutsche Freunde gefunden hat sie trotzdem nicht. Dass sie in Vereinen suchen müsste, hat ihr nie jemand gesagt.
Dafür freundete sie sich mit einer Polin an. Mit ihr spaziert sie oft durch Werpeloh, vorbei an den Klinkerhäusern und über die Felder. Sie kauft beim Bäcker ein. Dass die Werpeloher sie kennenlernen wollen, glaubt sie nicht mehr. Am Anfang grüßte sie, sagt sie. Zu oft habe sie keine Antwort bekommen. Hin und wieder sei sie beschimpft worden. Erst neulich, bei einem Spaziergang, habe die Tochter ihrer Freundin zu einer Frau „Hallo“ gesagt. Die habe sich weggedreht. Für Nitu ist klar: Mit den Ausländern wollten die Werpeloher nichts zu tun haben. Und sie laufe niemandem hinterher. “Ich habe auch Respekt vor mir”, sagt sie.
Ihre Nachbarn erzählen, doch, doch, da wohnten wohl Rumänen. „Eine Frau spricht auch gut Deutsch“, sagt einer. „Neulich haben die Rumänen ein Paket angenommen“, sagt ein anderer. „Sie grüßen freundlich“, sagen beide. Und weiter? Nichts weiter.
In der Kirche von Werpeloh bedeckt eine Collage eine etwa zehn Meter lange Wand. “Wir sind Werpeloh” steht auf dem selbst gebastelten Dorfplan, mit Straßennamen und Häusern und Hausnummern. Neben fast allen stehen die Namen der Bewohner, daneben klebt ein Foto von ihnen. Doch es klaffen Lücken. Kreuzkamp 18, 20, 24. Die 22: fehlt. Die Collage ist einige Jahre alt, schon damals schienen die Unsichtbaren nicht zu existieren.
Es gibt in Werpeloh kein Ausländerviertel. Es gibt nur Ein-Haus-Ghettos, Enklaven des Fremdseins mit Vorgarten und Ziegeldach.
Wer gebürtige Werpeloher fragt, warum sie die Fremden kaum kennen, hört immer die gleichen Sätze: Die arbeiteten so viel, oft auch am Wochenende, sie hätten keine Zeit für die Vereine und kein Interesse daran. Die meisten sprächen gar kein Deutsch. Viele tränken, manche zu viel. Einige versackten. Fast alle gingen bald wieder, nach ein paar Monaten oder einem Jahr.
Die meisten der Unsichtbaren wollen tatsächlich nicht bleiben. Jedenfalls nicht lange. Sie stanzen Metall in einer Werpeloher Fabrik. Sie zerlegen Schweine in einer Großschlachterei. Sie mauern auf Baustellen und schweißen Schiffstoiletten. Viele schuften sechs Tage die Woche im Schichtbetrieb, sammeln Urlaub an. Alle paar Monate fahren sie für eine Weile nach Hause. Viele sparen für einen Lastwagen, eine Wohnung, ein Haus, um sich in der alten Heimat etwas aufzubauen. Oder sie wollen in Deutschland bleiben, nur nicht in Werpeloh. So wie Madalina Nitu, die in eine Stadt ziehen möchte, vielleicht nach Meppen.
Man kann sie alle verstehen. Die alteingesessenen Werpeloher, die irgendwann aufhörten, sich zu interessieren. Andrejs Cans, der nach einem langen Tag lieber zuhause bleibt. Madalina Nitu, die genug davon hat, ins Leere zu grüßen. Vielleicht darf es so etwas auch geben im Dorf: Großstadtanonymität.
Wenige Tage vor dem Fußballturnier biegen zwei Kleinbusse auf einen Hof neben einem Mehrfamilienhaus ein. Die Schiebetüren werden aufgestoßen, dreizehn Frauen und Männer steigen aus, mit Plastiktüten in den Händen. Neue Werpeloher, aus Polen und der Slowakei, 13 neue Unsichtbare, die man sehen kann, wenn man will.
Text und Fotos
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