Vorgarten Eden
Zwischen Haustür und Bürgersteig zeigen die Werpeloher, dass sie die Natur im Griff haben. Und wie.
Von oben betrachtet, und das ist nicht im Geringsten herablassend gemeint, sieht Werpeloh aus wie ein Schwein. Bei Google Maps sind die Umrisse der Gemeinde in zartem Rosa unterlegt. Von der Schnauze erstreckt sich das Ortsgebiet über eine stattliche runde Brust voller Felder und Wälder bis zu einem ebenfalls ordentlich bewaldeten Schinken. Zwischen Brust und Schinken liegt der von Eichen umstellte Dorfplatz, der vor Jahrhunderten tatsächlich einmal eine Schweineweide war.
Wer Werpeloh vom Dorfplatz aus erkundet, der begreift schnell, dass hier nicht Kirche und Schützenhäuschen die Sehenswürdigkeiten sind. Die wahren Prestigeprojekte sind die Rechtecke vor den Häusern, präzise gezogen. Die Vorgärten fallen auf, weil sie auffallen wollen. Als Boten ihres Schöpfers rufen sie heraus, was für ein Mensch hier wohnt. Man entdeckt sie sofort, wenn man der Biegung der Hauptstraße folgt, die Bäckerei Anneken hinter sich lässt und an den Höfen des Bauern Hermes und des Bauern Eilers vorbei Richtung Kreuzkamp spaziert.
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Hier im Neubaugebiet blüht neben Hortensien und Chinaschilf der Ethos, beim Gärtnern nichts dem Zufall zu überlassen. Jede Pflanze, jeder Halm, jedes Kiesbett haben Zweck und Funktion. Nichts darf wachsen ohne Erlaubnis. Eindringlingen wird mit Schneckengift und Unkrautvernichtern zu Leibe gerückt. Die mit Blut, Schweiß, Tränen gehegten Rasenparzellen meißeln die Ahnung in den Kopf des Beobachters, dass ein Vorgarten nicht bloß eine Ruheoase sein soll, irgendwo in einem ruhigen Winkel im Schatten. Nein, der Gärtner will sich in aller Öffentlichkeit den Rücken buckelig ackern, er braucht den Zuschauer.
Er scheint zu imitieren, was er gelernt hat in einer Gesellschaft, in der alles einen Wert haben muss und kaum jemand noch nachzufragen weiß, wieso. Weil als Prinzip gilt, dass alles und jeder, der nicht verwertbar ist, zu spüren bekommt, wie schnell sich die unsichtbare Hand des Marktes zur eisernen Faust ballt. Und trotz dieses Stahlbads, in dem der Vorgärtner sein Seepferdchen machen muss, grüßt er stets freundlich seine Nachbarn. Und ja: er hilft ihnen auch, wo er kann.
Ein paar Meter weiter im Ginsterweg winken sich die Nachbarn über den efeuberankten Maschendrahtzaun. Der Glockenschlag des Kirchturms im Herzen Werpelohs klingt hier nur noch als fernes Läuten, hinter den Häusern erstreckt sich die niedersächsische Prärie. Scheinbar endlose Ackerflächen, am Horizont ein kleines Wäldchen. Grunzlaute verraten, dass in der Nähe wohl gerade eine Wildsau im Erdreich rüsselt. Hier vor den Häusern dominiert die bis ins Absurde getriebene Akkuratesse perfekter Kanten und exakter Linien.
Vor einem sehr weißen Haus reckt sich eine sehr runde Buchsbaumkugel in die Luft, säuberlich beschnitten, ein stummes Symbol artifizieller Ästhetik. Denn darum geht es ja bei all dem Vorgärtnern. Es ist das radikalste Projekt, sich die Natur untertan zu machen – Dominum terrae, hier, im gottesfürchtigen Emsland hat man das verstanden. Und so ist der Vorgarten kein Refugium, kein Ort der stillen Eremitage. Er steht nicht für Gärtnern in Versunkenheit, wie man es von jenen Mönchen kennt, die fernab der Welt die Rosen hegen. Der Vorgarten lässt sich vor niemandem verstecken. Er ist da, um gesehen zu werden, er verlangt nach Urteil, stellt sich der Kritik. Er ist die Visitenkarte seines Schöpfers.
Und so blitzen hinter all der klinischen Einheitlichkeit doch immer wieder ganz unterschiedliche Charaktere hervor. Da ist zum Beispiel der Planierer aus dem Weidengrund, der verstanden hat, dass Gärtnern vor allem Triebkontrolle bedeutet. Unkraut ist eben Unkraut und keine Zierpflanze. Doch da all das Pflanzen, Graben, Rupfen und Vertikutieren eine mühselige Angelegenheit ist, hat er sich entschlossen, einfach alles zuzuschottern. Durch den Schotter also führt ein ebenfalls geschotterter Weg zum Haus. Dazwischen ein einsamer Fliederbaum. Das Prinzip Vorgarten wird hier konsequent zu Ende gedacht. Als ultimativer Sieg der Sachlichkeit.
Ein paar Querstraßen weiter reihen sich wiederum Häuser, deren Besitzer ihre Vorgärten mit Lamellenzaun und Zypressensäulen zur Festung ausbauen. Hoch oben flattert die Deutschlandfahne am Mast. Wortkarge Kerle rammen Wachholdersträuche in den Boden und räuchern ausgewählte Maulwurfshügel aus – Einzelne bestrafen, Hunderte erziehen (Mao). Laubbesen und Forke sind hier die Werkzeuge der Wahl. Strenger Formschnitt diszipliniert den Wildwuchs. Und doch reicht hier das Archaische dem Fortschritt die Hand: Mähroboter halten Wacht über die Rasenflächen, die gestutzt sind wie die Köpfe der Rekruten auf dem nahegelegenen Truppenübungsplatz.
Doch ist der Vorgarten mehr als Domestizierungswahn und Kleinbürgerlichkeit mit Petunien und Lavendel. Ein windschiefer Zierapfel, eine vertrocknete Stechpalme verraten: Der Garten belehrt den Gärtner immer wieder über dessen eigene Unvollkommenheit. Realität und Wunschdenken müssen stets aufs Neue miteinander versöhnt werden. Wo der Boden sandig ist, wachsen keine Rosen. So einfach ist das manchmal. Und schon ein verregneter Sommer kann den eigenen Herrschaftsanspruch ins Wanken bringen. So ist der Vorgarten eben nicht zuletzt auch eine Charakterschule. Kein Ort unmittelbarer Satisfaktion. Denn klar ist, der Zauderer wird nie ein guter Gärtner. Gärtnern bedeutet Arbeit, Misserfolg und Neubeginn. Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit – wer im Vorgarten ackert, muss Kant nicht lesen, um ihn zu verstehen.
Mit Jägerzaun und Klinkermauer demonstriert der Vorgärtner seinen Besitzanspruch, den er durch die Urbarmachung des Landes erworben hat. Wer sich die Mühe macht, Rasen zu säen, zu gießen, zu mähen, der darf ihn auch sein Eigen nennen. Ganz wie John Locke sieht der Vorgärtner in der Aneignung der Natur die Grundlage des Privateigentums – und ohne Eigentum kann es für den Gärtner auch keine Freiheit geben. Und ohne Freiheit keine Demokratie. Unsere Zivilisation wird also im Vorgarten verteidigt, auch so könnte man es sehen.
Text und Optik
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